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Mathematiker
 

Karl Weierstraß

Karl WeierstraßMit unerschütterlicher Konsequenz verfolgte Weierstraß sein ganzes Leben hindurch die Aufgabe, das eigentliche Wesen der Abel’schen Funktionen vollständig und gründlich zu erforschen, sie analytisch darzustellen und sie in allen wesentlichen Teilen ganz unter die Herrschaft der Analysis zu bringen. Unter seinen hinterlassenen Manuskripten finden sich mindestens drei verschiedene Darstellungen der Theorie. In jeder derselben schreitet er zu immer größerer Vollendung fort. In einer seiner Abhandlungen hat er einmal ausgesprochen, daß die Ergebnisse, weIche er in ihr mitteile, ‚wenigstens diejenigen Mathematiker interessieren werden, welchen es Befriedigung gewährt, wenn es gelingt, irgendein Kapitel der Wissenschaft zu einem wirklichen Abschluß zu bringen‛. Das Bestreben, für die Abel’schen Funktionen dieses Ziel zu erreichen, beherrscht Weierstraß’ ganzes wissenschaftliches Lebenswerk.“ Mit diesen Sätzen von Magnus Gösta Mittag-Leffler (1846−1927), zitiert aus DIE ERSTEN 40 JAHRE DES LEBENS VON WEIERSTRASS, Acta Mathematica Band 39 (1923), S. 49, wird der Hauptteil des mathematischen Wirkens von Weierstraß treffend charakterisiert.

Karl Theodor Wilhelm Weierstraß, 1815 in Ostenfelde im Münsterland geboren, kam als Schüler der sechsten Klasse 14-jährig an das Katholische Gymnasium in Paderborn, wo er 1834 als „Primus omnium“ (als „Erster von allen“) das Abitur absolvierte. Das in der Bibliothek des Gymnasiums vorhandene Journal für reine und angewandte Mathematik („Crelles Journal“) diente ihm als regelmäßige und anregende Lektüre. (Später, von 1881 bis 1888, wurde diese Zeitschrift von ihm herausgegeben.)

Auf Wunsch des Vaters studierte Weierstraß zunächst Kameralistik (klassische Buchführungsmethode der öffentlichen Verwaltung), las aber parallel zum Studium in mathematischen Schriften, zu denen auch die Fundamenta nova theoriae functionum ellipticarum von C.G.J. Jacobi gehörte. Das Forschungsgebiet der elliptischen Funktionen sollte ihn lebenslang beschäftigen.

Im Herbst 1838 brach Weierstraß das Studium in Bonn ohne Abschluss ab und konnte ab 1839 in Münster bei Christoph Gudermann, seinem von ihm verehrten Lehrer, Mathematik studieren. Er hatte vorher schon das Kollegheft einer Vorlesung von Gudermann über die Theorie der elliptischen Funktionen durcharbeiten können und zu diesem Thema eigene Forschungen begonnen. Bereits im Frühjahr 1840 legte Weierstraß das Examen ab, um dessen Zulassung er zuvor im Februar gebeten hatte. Am 2. Mai 1840 erhielt Weierstraß von der Königlichen Wissenschaftlichen Prüfungskommission in Münster die Aufgaben, die er innerhalb eines halben Jahres zu bearbeiten hatte: neben einer philologischen Arbeit in lateinischer Sprache und einer pädagogischen Arbeit eine mathematische Arbeit, die wiederum aus drei Aufgaben bestand. Die erste und mit großem Abstand schwierigste dieser Aufgaben betraf die elliptischen Funktionen (Modularfunktionen). In der von Gudermann unterzeichneten Beurteilung der Weierstraß’schen Arbeit heißt es: Er hat „sich durch die Lehre von den Modular-Funktionen hindurch eine neue Bahn gebrochen und ist auf derselben, wie zu erwarten war, nicht nur zu den bekannten Darstellungen dieser Größen, sondern auch zu ganz neuen Resultaten gelangt. Der Kandidat tritt somit ebenbürtig mit in die Reihe der ruhmgekrönten Erfinder. ... Für ihn selbst und die Wissenschaft ist es aber garnicht zu wünschen, daß er Gymnasiallehrer werde, sondern daß günstige Umstände es dereinst ihm gestatten möchten, als akademischer Dozent zu fungieren.“ (Weierstraß hat seine Antwort auf die ihm gestellte erste Aufgabe erst 54 Jahre später selbst veröffentlicht: 1. Über die Entwicklung der Modular-Functionen im ersten Band seiner Mathematischen Werke.)

Es sollte noch sechzehn Jahre dauern, bis der so überschwänglich beurteilte Kandidat zum Professor ernannt wurde. In dieser Zeit als Gymnasiallehrer, zunächst in Münster, dann in Deutsch-Krone (heute: Wałcz) und zuletzt in Braunsberg (heute: Braniewo) forschte Weierstraß neben seinen unterrichtlichen Verpflichtungen weiter. Dann, im Jahr 1853, formulierte er seinen aufsehenerregenden Aufsatz Zur Theorie der Abelschen Functionen, der ein Jahr später in Crelles Journal veröffentlicht wurde. Bald darauf wurde er als Professor an das Königliche Gewerbeinstitut Berlin berufen und wenig später zum nebenamtlich außerordentlichen (ab 1864 zum ordentlichen) Professor an der Berliner Universität ernannt. Mittag-Leffler notiert hierzu: „War er in den ersten 40 Jahren seines Lebens im Ganzen unbeachtet geblieben, so tritt er nun mit einem Schlage als einer der größten, nicht viel später als der größte in seiner Wissenschaft hervor, and sein Einfluß, der sich bisher nur über die engen Kreise von Deutsch-Krone und Braunsberg erstreckt hatte, geht nunmehr über die ganze gebildete Welt. Scharen von Schülern sammeln sich um seinen Lehrstuhl und für alle steht er mit einem Mal da als der große, unerreichbare Meister, dem niemand sich ohne Verehrung und Bewunderung nähert.“ (Acta Mathematica Band 39 (1923), S. 52)

Weierstraß kümmerte sich um ein logisch einwandfreies Fundament der Analysis, entwickelte die Theorie der Funktionen mit komplexen Veränderlichen auf der Grundlage konvergenter Potenzreihen, arbeitete zu Problemen der Variationsrechnung und der Differentialgeometrie. Sein Herzenswunsch aber, eine komplette und lückenlose Theorie der Abel’schen Funktionen umfassend darstellen zu können, ging nicht in Erfüllung. Im Sommer 1888 war er sich zwar sicher, sämtliche Antworten auf alle bis dahin noch offenen Fragen gefunden zu haben, krankheitsbedingt war es ihm jedoch nicht mehr möglich, seine Theorie in eine schriftliche und endgültige Form zu bringen.

1815 Weierstraß wird am 31. Oktober in Ostenfelde geboren.
1834 Studium der Kameralwissenschaften an der Universität in Bonn (bis 1838).
1839 Studium der Mathematik an der Akademie Münster (bis 1840).
1840 Über die Entwicklung der Modular-Functionen
später veröffentlicht in: Mathematische Werke, Band I, S. 1−49.
1841 Probejahr am Gymnasium in Münster
Darstellung einer analytischen Funktion, deren absoluter Betrag zwischen zwei gegebenen Grenzen liegt.
Zur Theorie der Potenzreihen,
beide Aufsätze später veröffentlicht in: Mathematische Werke, Band I, S. 51−74.
1842 Lehrer am katholischen Progymnasium in Deutsch-Krone (Westpreußen) (bis 1848).
Definition analytischer Funktionen einer Veränderlichen vermittelst algebraischer Differentialgleichungen,
später veröffentlicht in: Mathematische Werke, Band I, S. 75−84.
1848 Lehrer am Collegium Hoseanum in Braunsberg (Ostpreußen) (bis 1856).
1843 Bemerkungen über die analytischen Fakultäten
im Jahresbericht des Progymnasiums in Deutsch-Krone 1843
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 87−103.
1849 Beitrag zur Theorie der Abel’schen Integrale
im Jahresbericht des Gymnasiums in Braunsberg für das Schuljahr 1848/49,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 111−131.
1853 Weierstraß löst das Jacobi’sche Umkehrproblem.
1854 Zur Theorie der Abelschen Functionen in Crelles Journal, 47. Band, S. 289−306,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 133−152.
Verleihung des Doktorgrades honoris causa durch die Universität Königsberg.
1855 Beurlaubung für weitere Forschungen in Berlin.
1856 Über die Theorie der analytischen Facultäten in Crelles Journal, 51. Band, S. 1− 60,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 153−221.
Theorie der Abel’schen Functionen
in Crelles Journal, 52. Band, S. 285−79,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 297−355.
1856 Berufung als Professor an das Königliche Gewerbeinstitut Berlin.
Ernennung zum Professor an der Universität Berlin.
Ernennung zum ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin.
1858 Über ein die homogenen Functionen zweiten Grades betreffendes Theorem,
Monatsbericht der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1858, S. 207−220,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 233−246.
1861 Über die geodätischen Linien auf dem dreiaxigen Ellipsoid,
Monatsbericht der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1861, S. 986−997,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 257−266.
1862 Bemerkungen über die Integration der hyperelliptischen Differential-Gleichungen,
im Monatsbericht der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1862, S. 127−133,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 267−273.
1869 Über die allgemeinsten eindeutigen und 2n-fach periodischen Funktionen von n Veränderlichen,
Monatsbericht der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1869, S. 853−857.
bzw. in: Mathematische Werke, Band II, S. 45−48.
1872 Weierstraß findet eine reellwertige Funktion, die überall stetig, aber nirgends differenzierbar ist.
1873 Weierstraß wird Rektor der Universität Berlin.
1876 Zur Theorie der eindeutigen analytischen Funktionen,
Mathematische Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1876), S. 11−60,
bzw. in: Mathematische Werke, Band II, S. 77−124.
1882 Zur Theorie der elliptischen Functionen,
Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1882), S. 443−451,
bzw. in: Mathematische Werke, Band II, S. 245−255.
1883 Zur Theorie der elliptischen Functionen,
Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1883), S. 193−203, 265−275, 1271−1297,
bzw. in: Mathematische Werke, Band II, S. 257−309.
1884 Zur Integration der linearen partiellen Differential-Gleichungen mit constanten Coefficienten,
Acta mathematica Band 6 (1884), S. 254−279,
bzw. in: Mathematische Werke, Band I, S. 275−295.
1887 Verleihung der Cothenius-Medaille durch die Leopoldina.
1890 Beendigung der Vorlesungstätigkeit.
1894 Mathematische Werke, Herausgabe des ersten Bandes.
1895 Verleihung der Copley-Medaille durch die Royal Society.
1897 Mathematische Werke, Herausgabe des zweiten Bandes.
1897 Weierstraß stirbt am 19. Dezember in Berlin.
1927 Mathematische Werke, Herausgabe des siebten (und letzten) Bandes.

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